Meditation und spirituelle Entwicklung

Der Körper ist das Gefäß, in das die Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit gefaßt ist. Der Körper steht unserem wahren Selbst näher als der Verstand. (P. Willigis Jäger)

Spirituelle Entwicklung und Entwicklung der Persönlichkeit sind eng miteinander verbunden in wechselseitiger Abhängigkeit und Befruchtung. Für mich sind Spiritualität und Kontaktaufnahme mit dem Selbst, wie C.G.Jung es nennt, verschiedene Aspekte ein und derselben Sache. Dieses Selbst hat verschiedene Namen: Manche nennen es das höhere Selbst, manche die Buddha-Natur, die Christus-Natur, den göttlichen Funken, den Schöpfer, die letzte Wirklichkeit. Der geistige Hintergrund für mein therapeutisches Tun ist der Wunsch, daß dieses Selbst sich bewußt inkarnieren und erfahren möge an den Begrenzungen, die diese Welt setzt.

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Spiritualität und Psychotherapie

In unserer psychotherapeutischen Praxis werden wir zunehmend mit Menschen in spirituellen Krisen konfrontiert. Da spirituelle Krisen, insbesondere sog. Kundalini-Psychosen, differentialdiagnostisch gegen Schizophrenie und organische Psychosen, insbesondere nach Drogenmißbrauch, abzugrenzen sind, gehört die spirituelle Krise zumindest diagnostisch in das Aufgabengebiet des Psychiaters und Psychotherapeuten. Darüber hinaus können uns spirituelle Krisen bzw. das, was während spiritueller Krisen geschieht, ganz neue Aspekte über Heilung vermitteln:
„Statt unwiderruflich verrückt zu werden, tauchen Menschen in spirituellen Krisen aus diesen ungewöhnlichen Geisteszuständen mit einem verstärkten Gefühl von Wohlbefinden auf und kommen besser mit den Anforderungen des Alltags zurecht. In vielen Fällen werden im Rahmen dieses Prozesses langjährige emotionale, geistige und körperliche Probleme wie durch Wunder geheilt.“ (Stanislav Grof)


Spiritualität und Trauma

Ein schweres Trauma ist oft mit einer Erschütterung der Selbstverständlichkeit des In-der-Welt-Seins verbunden und bringt uns in Kontakt mit unserer spirituellen Dimension..

Sowohl Traumen mit körperlicher Verletzung als auch Traumen, die "nur" psychisch wirken, wirken dadurch traumatisch, daß sie als „Erste Hilfe“ ein angeborenes körperliches Reaktionsmuster aktivieren, das wir in vielen Aspekten mit anderen Säugetieren gemeinsam haben. Und zwar wird im Schock der im Körper gespeicherte Schmerz, die Angst, das Erschrecken, die tiefe Erschütterung abgespalten. Die Seele zieht sich aus dem Körper zurück, „dekarniert“, was diesen Menschen oft den unpersönlichen, emotionslosen, irrealen, bisweilen transzendenten Anschein verleiht. Dekarnation wird besonders deutlich in der Nahtoderfahrung als Extremform einer Schockreaktion. Hier verläßt die „Seele“, der feinstoffliche „Energiekörper“ den Leib und betrachtet sich selbst von oben (out-of-body-experience). In diesem Moment ist keine Persönlichkeit mehr im Leib anwesend. Oft werden dabei transpersonale Bewußtseinsräume betreten. Diese Erlebnisse können so beeindruckend sein und von solch einer verändernden Eindrücklichkeit, daß sie tatsächlich mit den tiefsten Fragen nach dem Sinn des Daseins konfrontieren. Häufig führen sie zu einer Gelassenheit und Wertschätzung des Lebens, die sich zu einer neuen Einstellung gegenüber dem Leben, gegenüber Religion und Spiritualität wandelt. Sie können zu wertvollen Erfahrungen im Sinne von Erkenntnis der Natur, des Seins, der Rückbindung auf ein größeres Ganzes hin, im Sinne von "Erleuchtung" werden. Die meisten Menschen wollen nach einem Trauma allerdings so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehren.

Traumen, die eine Verunsicherung auf einer fundamentalen, existentiellen Ebene bewirken, sind allein auf der persönlich-menschlichen Ebene von Mitgefühl und psychoanalytischer Deutung nicht zu bewältigen oder gar zu „heilen“. Dazu bedarf es einer überpersönlichen, transpersonalen Kraft. In Kontakt zu kommen mit dieser Kraft ist das Ziel meditativer Praxis.
 

Spirituelle Praxis als Weg der Reinigung

Die in meditativer Praxis bewußt herbeigeführte Entidentifikation mit dem Leib: "Ich bin nicht mein Leib" ist etwas grundsätzlich anderes als Abspaltung im Schock. Diese Entidentifizierung beinhaltet die volle Aufmerksamkeit auf das, was im Körper geschieht. Eine der bekanntesten meditativen "Einstiegspraktiken" ist die Beobachtung des Atems oder, im Hatha-Yoga, die Beobachtung der muskulären Spannungsverhältnisse während bestimmter Körperhaltungen (Asanas). Nach Willigis Jäger kann man zwei wesentliche Strukturschritte im meditativen Prozeß zusammenfassen:

1. Grundstruktur: Bewußtseinsvereinheitlichung
Unser Bewußtsein bietet uns alle drei Sekunden etwas Neues an. Deshalb muß erst einmal das Bewußtseins an einer Sache vereinheitlicht werden. Mit was der Meditierende eins wird, ist im Grunde genommen nicht wichtig. Die Kunst ist dabeizubleiben bei einer Sache, beim Atmen, beim Gehen, bei einer Gebetsgebärde, bei einem Koan, bei einem Mantra. Tai Chi, Qigong, Yoga, Gebetsgebärden sind meditative Übungen, bei denen der Körper zum Kristallisationspunkt wird, so wie der Atem oder der Laut zum Kristallisationspunkt werden kann. In diesen Bewegungen ist eine bewußtseinssammelnde Kraft: Ich werde eins mit diesen Bewegungen.

2. Grundstruktur: Bewußtseinsvereinigung bzw. Bewußtseinsentleerung
Der Meditierende nimmt nichts an, was in seinem Bewußtsein aufscheint, er ist wie ein Spiegel, der alles reflektiert, aber sich mit nichts identifiziert (Schauen ins nackte Sein, Shikantaza). Das ist Achtsamkeit, reine Aufmerksamkeit, reines Schauen. Daraus erwächst das „Liebende Aufmerken“: „Der Schmerz des anderen ist mein Schmerz, die Freude des anderen ist meine Freude. Diese Liebe ist ein Wohlwollen zu allem hin. Liebe kann sehr streng sein. Liebe kann sehr hart sein. Liebe kann um des Weges willen auch fordern.“ Damit ist das Ziel spiritueller Übung umrissen.

Der Weg nun verwandelt die Persönlichkeitsstruktur bis in die Tiefe hinein, nicht weil wir uns verwandeln, sondern weil wir verwandelt werden. Unsere eigene göttliche Tiefe macht dann etwas mit uns.

Die mystische Erfahrung ist eine Erfahrung der Dinge, so wie sie sind. Ich kann nichts hinzufügen, ich kann nichts wegnehmen. Das So-Sein ist erfüllend, ist vollkommen. Eine wirkliche Erfahrung spielt sich immer ab im transpersonalen Raum, fließt aber dann zurück in die Persönlichkeitsstruktur.


Körpererinnerung an Traumata

Meditative Praktiken wiederbeleben Körpererinnerungen an Traumata und können dadurch Abwehrmechanismen in Form von Abspaltung oder übermäßiger Identifikation mit dem Persönlichkeitsanteil provozieren, welcher transpersonale Bewußtseinsräume zu betreten in der Lage ist. Die Erfahrung der transpersonalen Dimension wird dann nicht zur Relativierung der eigenen Körperlichkeit benutzt, sondern zum Sich-Distanzieren von der irdischen Leiblichkeit mit all ihren Beschwernissen. Was hat es wohl mit der Selbsterkenntnis eines Menschen auf sich, der nicht völlig in seinem Leib inkarniert ist, der durch ein Trauma teilweise wie narkotisiert ist?

Auch in den westlichen Energiesystemen, insbesondere in der bioenergetischen Analyse, sind die energetischen Phänomene der Reinigung als solche wohl bekannt und ausführlich beschrieben. Verschiedene Körper- und Atemübungen werden eingesetzt, um die Blockaden auf dem Weg der Bioenergie zu beseitigen. Dabei ist immer auch eine Auseinandersetzung und Integration der darin gespeicherten Emotionen und Erinnerungen notwendig, also eine Integration der eigenen Schattenanteile. In der bioenergetischen Analyse wird der Erdung, d. h. energetisch gesehen dem Wurzel-Chakra, dem untersten Energiezentrum im Kundalini-Yoga, besondere Aufmerksamkeit gewidmet und von dort ausgehend mehr oder weniger systematisch nach oben gearbeitet. "C.G. Jung konstatiert interessanterweise beim modernen westlichen Menschen eine Belebung der äußeren Aspekte der höheren Chakren. Es ist dem modernen Menschen aufgegeben, sich der Instinktwelt, dem Triebhaft-Animalischen wieder anzunähern, gewissermaßen auch als Eingang in die Unterwelt, damit die unteren zwei bis drei Chakren aktiviert werden. Erst dann können durch die wieder aufsteigende Kundalini-Energie die feinstofflichen Aspekte der höheren Chakren belebt werden...Die ursprüngliche Auffassung, daß die Kundalini-Energie, vom Wurzel-Chakra ausgehend, hochsteigt, ist also für viele Kulturen nicht mehr adäquat. Zuerst ist eine Art rückläufige Bewegung notwendig. Das In-Verantwortung-Nehmen von triebhaften, auch sexuellen Energien, ist Voraussetzung dafür, daß die Kundalini auch die höheren Chakren angemessen öffnet.“ (Dieter Loomans)

In der meditativen Praxis wird ein Leerraum angestrebt, in dem letztendlich die große Leere erfahren werden kann, die gleichzeitig göttliche Fülle ist. Es ist naheliegend, daß dieser Leerraum sich häufig erst einmal mit unbewußtem Material aus dem Bereich des persönlichen Schattens oder des kollektiven Unbewußten anfüllt. „Wenn die Bühne frei ist, beginnt der Teufel zu tanzen“. Die unbewußten Persönlichkeitsanteile bewußt werden zu lassen, zu entwickeln und in den Alltag zu integrieren ist schon immer Aufgabe von Psychotherapie gewesen. Ähnlich wie ein psychotherapeutischer Prozeß ist die spirituelle Entwicklung daran zu messen, wie die Person ihre spirituellen Erkenntnisse und Erfahrungen mit Bewußtheit in den Alltag umsetzen kann. Das bedeutet Erdung der spirituellen Erfahrung, psychologisch gesprochen, Persönlichkeitsentwicklung.

 

Zusammenfassung Trauma und Spiritualität

Traumata werfen die Sinnfrage auf und stellen oft die bisherige Weltanschauung infrage. Die psychotherapeutische Aufarbeitung von Traumen öffnet häufig den Zugang zu einer transpersonalen psychischen Dimension. In der Meditation werden Traumata auf einer nichtsprachlichen Ebene kathartisch wiedererinnert. Dies setzt psychische Energie frei, die für befreiende transzendentale Erfahrungen öffnet. Sowohl östliches Kundalini-Yoga wie westliche Bioenergetik, wenn nicht Meditation überhaupt haben auch das Ziel der „Reinigung“ von durch Traumata gesetzten Blockierungen. Möglicherweise wirken körperorientierte Traumatherapie wie auch Meditation über ähnliche Veränderungen der neuronalen Verschaltungen im Mittelhirn, mit vergleichbaren Risiken im Prozess.

Traumata confront the question of sense of life und the weltanschauung. The psychotherapy of trauma sometimes opens up the access to the transpersonal dimension of live. During meditation traumata are remembered on a nonverbal level and with catharsis of the blocked emotional energy. The set free psychic energy opens up for liberating transcendental experiences. Eastern Kundalini yoga as well as western bioenergetics, may be all meditation practices aim to purifying of the blockades set by traumata. Possibly bodyoriented trauma therapy as well as meditation work by causing similar changes of neuronal circuits of the emotional brain, with similar process risks.

 

 

 

Dr. med. Karl-Klaus Madert - Whistlerweg 30 - D-81479 München